POEMAdeutschland

Armut und Umwelt in Amazonien

Schwabenfleiß im Regenwald

Wie Gerd Rathgeb am Amazonas in die Fußstapfen von Willi Hoss tritt - Eine gemeinsame Aktion von SONNTAG AKTUELL und der LANDESSCHAU Baden-Württemberg

Daimler-Chrysler, Werk Zuffenhausen. Vor dem Krieg stellte hier die Firma Heinkel Flugzeugmotoren her, jetzt baut der Auto­mobilhersteller Getriebe. Neben der Pförtnerloge liegt das Büro der IG Metall in einem schmucklosen Flachbau. Es schneit.

Drinnen sitzt ein grauhaariger 60-jähriger Herr in Bluejeans und Pulli und tut, was er seinem Namen und seiner Aufgabe schuldig ist: Betriebsrat Gerd Rathgeb gibt Rat. Ein Kollege will wissen, wie er sich im Unternehmen beruflich orientieren soll. Rathgeb skizziert die Möglichkeiten. Da kommt ein Fax aus Brasilien. Ein Kostenvoranschlag für ein Entwicklungsprojekt. Rathgeb prüft Position um Position.

Gerd Rathgeb hat das Erbe von Willi Hoss übernommen, der vor einem Jahr verstarb - in doppelter Hinsicht: Der IG-Metaller setzt Hoss' Gewerkschaftsarbeit bei DaimlerChrysler fort und kümmert sich um das Regenwaldprojekt Poema, das 1992 in Belém am Mündungsdelta des Amazonas ins Leben gerufen wurde und seither von der Stuttgarter Gruppe unterstützt wird.

Im August ist Rathgeb das erste Mal nach Amazonien ohne Willi Hoss gereist, dem Mann, der bei den Grünen als auch bei Poema zu den Gründervätern zählte. Die Projekte, die die Stuttgarter betreuen, befinden sich im Bundesstaat Pará am Unterlauf des Amazonas, das eine auf der Ilha de Marajó, der größten Südwasserinsel der Welt, das zweite am Rio Tapajós, zwei Tagesreisen flussaufwärts, und das dritte im Süden. Dort, in einem Indioreservat, geht es um die medizinische Grundversorgung; an allen drei Orten werden Brunnen. gebohrt und Sonnenenergieanlagen errichtet.

Dabei mischen sich schwäbische Gründlichkeit und südamerikanische Lebensfreude. Rathgeb ist überzeugt: „Wir können beide voneinander lernen." Wie schon Hoss genießt der neue Projektkoordinator die Lebensart der Brasilianer. Rathgeb berichtet von der Großzügigkeit der Eingeborenen, die doch bettelarm sind.

Das Leben am Amazonas ist nicht leicht für die Bewohner. Rathgeb nennt ein Beispiel. Er habe am Rio Tapajós einen Mann gesehen, der sich den großen Zeh beim Fußballspiel schwer verletzt hatte. Statt zum Arzt zu gehen, hatte er die Wunde vereitern lassen. „Es sah furchtbar aus." Das Problem: Dem Mann fehlten umgerechnet 14 Euro, er konnte sich die Reise zum nächsten Mediziner nicht leisten. Rathgeb schenkte ihm das Geld für die Überfahrt.

Dass die Leute kein Geld haben, liegt daran, dass sie es nicht gelernt haben, zu Geld zu kommen. Am Rio Tapajós ernähren sich die Menschen von Fischfang und Acker­bau, vom Sammeln und der Jagd. Das, was sie haben, genügt zum Leben, aber nicht für mehr. Um Geld zu verdienen, müssten sie handeln. Und wer handeln will, muss „marktfähige Waren" herstellen. Poema hilft dabei.

Da sind die Bewohner von Curralinho auf der Ilha de Marajó schon weiter. Sie handeln mit Paranüssen; sie kennen den Preis ihrer Ware und lassen sich nicht übers Ohr hauen. Nach Curralinho wird Gerd Rathgeb in vier Wochen zurückkehren, weil die Brasilianer dort eine Begegnungsstätte ein­weihen: das Willi-Hoss-Haus.

Rathgeb wünscht sich, dass die Arbeit so weitergeht, dass immer mehr Bewohner von Amazonien ein Leben führen, das in den Grundfesten gesichert ist. So kann auch die Vernichtung des Regenwalds gebremst wer­den, was eines der Hauptziele von Poema ist. Denn sobald die Leute wissen, wie man nachhaltig Landwirtschaft betreibt, roden sie keine neuen Wälder.

Wer Wohltaten verteilen will, braucht Geld. Das erhält Poema Stuttgart von Privat­leuten, Schulen und Kirchen - doch weniger da, wo man es angesichts von Rathgebs Arbeitsplatz erwarten kann: von der Industrie.

Es ist ja nicht so, dass Daimler-Chrysler kein Engagement zeigt. 1992 spendierte der Weltkonzern eine Million Dollar zum Start von Poema und ist seither als Förderer dabei. Der Autohersteller verarbeitet Kokos­fasern aus Amazonien in Sitzpolstern.

Doch Rathgeb hat ganz andere Träume. Wie wäre es, wenn jeder, der einen neuen Mercedes kauft, einen bescheidenen Betrag für den Regenwald drauflegen könne? Natürlich ganz freiwillig und nach dem Motto: Hier stößt mein Auto Kohlendioxid aus, auf der anderen Seite der Erde sorgt mein Geld dafür, dass der Regenwald überlebt und das schädliche Gas so wieder abgebaut wird. Noch hat Gerd Rathgeb seine Chefs nicht überzeugt. Aber er wird dranbleiben, ob es nun auf gut Deutsch schneit oder brasilia­nisch die Sonne scheint.

Michael Schwarz
Gesendet am : Dienstag, 27.01.2004 18.45 Uhr, Landesschau SWR